Gerhard Besier / Clemens Vollnhals: Einleitung, in: dies. (Hg.), Repression und Selbstbehauptung: Die Zeugen Jehovas unter der NS- und der SED-Diktatur, Berlin 2003, S. 1-7. Inhaltsverzeichnis des Sammelbandes und weitere Zitate ... Buchinfo  ...


ZITATE

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"Zuständig für die geheimpolizeiliche Überwachung und Verfolgung [der Zeugen Jehovas] war das Ministerium für Staatssicherheit, das 1951 den Gruppenvorgang 'Gesindel' (später ZOV 'Sumpf') anlegte. Wie Waldemar Hirch darlegt, dominierte zunächst der Terror. Bis 1955 verhaftete die Staatssicherheit rund 2 800 Zeugen Jehovas, während in den folgenden Jahren bis 1961 nur mehr 220 Verhaftungen erfolgten. An die Stelle offener Verfolgung trat zunehmend eine subtilere Strategie, die auf Verunsicherung und Zersetzung von innen setzte, um keine Glaubensmärtyrer zu schaffen. In diesem Zusammenhang ist auch die seit 1965 im Auftrag der Staatssicherheit tätige Splittergruppe 'Christliche Verantwortung' zu nennen, deren gleichnamige Zeitschrift bis 1996 existierte und, wie Gerhard Besier ausführt, nachhaltig die konfessionskundliche Wahrnehmung im Westen beeinflußt hat. Trotz eines enormen Aufwandes und partieller Erfolge gelang es der Staatsicherheit jedoch nicht, die illegale, hochgradig konspirativ geführte Organisation der Zeugen Jehovas zu zerschlagen oder, wie es im MfS-Sprachgebrauch hieß, zu 'liquidieren'. Hierbei muß man allerdings auch den Wandel der politischen Rahmenbedingungen in Rechnung stellen, der seit Mitte der siebziger Jahre im Zuge des KSZE-Prozesses einsetzte und der Staatssicherheit zunehmend die Hände band, da sie aufgrund übergeordneter außenpolitischer Rücksichtnahmen nicht mehr mit der ganzen Härte des politischen Strafrechts zuschlagen durfte. [...]

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[...] Galten die Zeugen Jehovas im Nationalsozialismus als Teil einer globalen Veschwörung von westlichem Finanzjudentum und östlichem Bolschewismus, so waren sie im Urteil der Kommunisten ein antikommunistischer Stoßtrupp [Seite 6] des amerikanischen Imperialismus. In beiden Weltanschauungsdiktaturen dienten die Zeugen Jehovas, wie Gerald Hacke in einer vergleichenden Untersuchung der Wahrnehmungsmuster ausführt, als Projektionsfläche für ein imaginäres Feindbild, das sich bei allen Unterschieden jeweils aus einer primär ideologisch präformierten Perzeption herleitete. Sie sagt deshalb mehr über die ideologische Fixierung und Paranoia der Verfolger aus als über das konkrete Verhalten der Opfer.

Gewiß lehnten die Zeugen Jehovas auf Grund ihres Glaubens des Kommunismus ab, doch waren sie deshalb keine politischen Gegner des SED-Regimes. Vielmehr hielen sie – wie unter der NS-Diktatur – unerschütterlich an ihrem Grundsatz der strikten politischen Abstinenz fest. Sie untersagten ihren Anhängern die Mitgliedschaft und Mitarbeit in politischen Organisationen und Parteien, enthielten sich der Ausübung des aktiven und politischen Wahlrechts und verweigerten, was am schwersten wog, konsequent den Militärdienst. Diese Grundsätze der privaten Lebensführung stellten zu keiner Zeit – weder in der Diktatur noch in der Demokratie – eine politische Entscheidung gegen die jeweils herrschende Ordnung dar. Sie resultierten vielmehr aus der Glaubenslehre der Zeugen Jehovas, die es unter allen politischen Verhältnissen zu befolgen gilt.

Dieselben Verhaltensweisen, die uns heute vielleicht als befremdlich oder, wie der missionarische Eifer der 'Wachtturm-Leute', als merkwürdig anmuten mögen, mussten jedoch unter den Bedingungen einer totalitären Diktatur zwangsläufig als Ausdruck des politischen Protests erscheinen oder, genauer gesagt, missverstanden werden. Totalitäre Diktaturen begnügen sich bekanntlich nicht mit der politischen Herrschaft über Staat und Gesellschaft, sondern sie wollen den ganzen Menschen für sich vereinnahmen. Sie verstehen sich nicht umsonst als Erziehungsdiktaturen. Im Zentrum ihrerer ideologischen Bemühungen steht eine Utopie: die Herausbildung einer völlig neuen Gesellschaft, basierend auf einem neuen Menschen. Wer solche Ziele verfolgt, kann gegenüber anderen weltanschaulichen Deutungsmustern nicht tolerant sein. Er kann deshalb auch nicht das Gewissen des Einzelnen respektieren – und erst recht nicht das kollektiv abweichende Verhalten einer missionarisch sehr aktiven Glaubensgemeinschaft. Hinzu kommt, dass die Zeugen Jehovas auch unter den Bedingungen der Illegalität weiterarbeiteten und ihre Organisation konspirativ abschotteten, was die staatlichen Repressionsorgane wiederum als Bestätigung ihres jeweiligen Feindbildes interpretierten.

Die Verfolgung- und Leidensgeschichte der Zeugen Jehovas unter der NS- wie der SED-Diktatur fällt, wenn man die idealtypische Begrifflichkeit Richard Löwenthals zugrunde legt, in den Bereich der gesellschaftlichen Verweigerung. Sie stellten keine politisch motivierte Opposition im eigentlichen Begriffssinn dar, vielmehr wurden die Zeugen Jehovas in Ausübung ihres Glaubens zu Opfern zweier Diktaturen, die sich aus ganz unterschiedlichen Ideologien und Triebkräften speisten. Gemeinsam war ihnen jedoch der totalitäre [Seite 7] Verfügungsanspruch, der Zugriff auf das einzelne Individiuum. Man mußte keine 'Feind' sein, um als solcher behandelt zu werden. Es war kein heroischer Widerstand, der im Namen der allgemeinen Menschenrechte auf den aktiven Sturz eines Unrechtsregimes abzielte und den es heute etwa zu verklären gälte. Vielmehr handelt es sich um eine Geschichte standhafter Verweigerung aus dem Glauben.

[…] Es ist im Interesse einer breiten, offenen und pluralistisch geprägten Erinnerungskultur zu begrüßen, daß die lange Zeit vergessenen Opfergruppen – und damit auch die Verfolgung der Zeugen Jehovas – stärker in das Blickfeld der Öffentlichkeit geraten. Denn wahrhafte Erinnerung ist ebenso unteilbar wie der Respekt, der allen Opfern gebürt, ganz gleich wie wir auch sonst ihre politische Gesinnung oder religiöse Überzeugung beurteilen mögen."

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