Gerhard Besier: Vorurteile, Verfolgungen und Verbote. Zur sozialen Diskriminierung der Zeugen Jehovas am Beispiel der "Christlichen Verantwortung", in: Gerhard Besier / Clemens Vollnhals (Hg.), Repression und Selbstbehauptung: Die Zeugen Jehovas unter der NS- und der SED-Diktatur, Berlin 2003, S. 135-158.
ÜBERSICHT
I. Soziale Diskriminierung einer religiösen Minderheit und sozialpsychologische Erklärungsansätze
II. Die Herausgeber und Leiter der "Christlichen Verantwortung" (CV)
III. Zusammenarbei der "Christichen Verantwortung" mit großkirchlichen Einrichtungen in Ost und West - Erklärungsversuche
- Anmerkungen und Quellen im gedruckten Exemplar -
ZITATE
"Anfang 1924 äußerte sich der deutsche Reichsinnenminister gegenüber seinem preußischen Kollegen: 'Eine Ueberwachung der Tätigkeit derWachtturm-Bibel und Traktat-Gesellschaft scheint auch mir angezeigt, sofern sie unauffällig geschehen kann. Vielleicht bedienen sich dabei die Regierungspräsidenten der Hilfe der evangelischen Konsistorien, die gegenüber solchen Gesellschaften [Seite 136] meist gut unterrichtet sind und bei der Beteiligung kirchlicher Interessen sicherlich zu Auskünften gern bereit sein werden.' Dieser antwortete: 'Einem Verbot der Sekte auf Grund des Ausnahmezustandes kann auch ich nicht das Wort reden. Ebensowenig möchte ich zur Zeit raten, neue reichsrechtliche Bestimmungen zur Verhinderung ihrer Tätigkeit anzuregen. Wenn auch die Tätigkeit der Sekte für den Staat unerwünscht ist, wird doch ihre Bekämpfung solange als möglich besser den Kirchen zu überlassen sein, gegen die sich die Angriffe in erster Linie richten.'
Mit anderen Worten: Die Innenminister der Weimarer Republik hätten am liebsten die ZJ [Zeugen Jehovas] verboten, sahen dazu aber keine rechtliche Handhabe. Darum ließ man sie beobachten und setzte bei der Bekämpfung auf die Großkirchen, von denen man mit Recht annehmen konnte, sie würden sich diesre Aufgabe annehmen. [...]
Zu Beginn des Dritten Reiches riefen deutsch-christliche Kirchenleitungen ihre Pfarrer und Pastoren dazu auf, für die Gestapo Spitzeldienste zu leiten, 'um den Zeugen Jehovas "das Handwerk zu legen"'. Die Apologetische Zentrale, eine Abteilung des Central-Ausschusses der Inneren Mission, stellte dem Reichsinnen- und Propagandaministerium sowie der Gestapo Hintergrundmaterial über die 'Sekte' zur Verfügung. Bei gemeinsamen Besprechungen im Berliner Geheimen Staatspolizeiamt bzw. im Kultusministerium Ende Mai / Anfang Juni 1933 erklärten Mitarbeiter der Apologetischen Centrale und des preußischen Evangelischen Oberkirchenrats, sie begrüßten ein Verbot der ZJ [Zeugen Jehovas]."
"Ausgrenzungen und Diffamierungen von Minderheiten durch Mehrheiten geschehen natürlich stets in bester Absicht. Minderheiten - oder zumindest deren Leitgestalten - werden in ihrem Denken, Handeln und Fühlen als 'gefährlich' dargestellt: sie und ihre 'Organisation' bedrohten Mehrheiten psychisch und führten sie auf sittliche, politische oder religiöse Abwege."
[Seite 139]
"Dabei ist interessant, daß auch Diktaturen stets die Fiktion aufrechterhalten, sie bekämpften eine Minderheit deshalb, weil sie für die Entwicklung der Mehrheit gefährlich oder gar bedrohlich sei. Das war in der DDR nicht anders. Zunächst mußte den Mitgliedern der Wachtturm-Gesellschaft [Zeugen Jehovas] verdeutlicht weden, daß sie bislang im Irrtum waren. Bei dieser Überzeugungsarbeit bediente sich insbesondere das Ministerium für Staatssicherheit [MfS, Stasi] moderner psychologischer Erkenntnisse, die - mit Gewaltmaßnahmen oder der Androhung von Gewalt gekoppelt - meist zu beachtlichen Erfolgen führten. Obwohl man 'Bekehrungen' unter Androhung von Strafe für gewöhnlich geringe Bedeutung beimißt, sind sie doch recht wirkungsvoll, wenn im Falle von Verhaltensänderungen Belohnungen in Aussicht gestellt werden. So weiß man aus der Sozialpsychologie, daß sich - etwa bei Geiselnahmen aus kriminellen oder politischen Gründen - die Opfer nicht selten mit ihren Tätern identifizieren [Seite 140] und im Verlauf der Geiselnahme zu deren Standpunkt übertreten. Nach einem entsprechenden Vorgang in Stockholm Anfang der siebziger Jahre ist diesse Phänomen als 'Stockholm-Syndrom' in die Literatur eingegangen."
[Seite 141]
"Dem beschriebenen sozialpsychologischen Phänomen sind auch einige Zeugen Jehovas in der DDR erlegen. Im folgenden werden solche Verhaltensweise aus dem Umfeld der gegen die Zeugen Jehovas eingesetzten, 1965 gegründeten Kampfschrift "Christliche Verantwortung" beschrieben. Die Zeitschrift, deren Geschichte, Wirken und MfS-Steuerung bereits Gegenstand einer historischen Dokumentation war, sah sich übrigens selbst in der Oppositions-Tradition gegen die ZJ [Zeugen Jehovas] wie sie in den zwanziger Jahren geübt wurde. Für das MfS war das Publikationsorgan das 'Hauptmittel für die politisch-ideologische Beeinflussung der ZJ in der DDR'."
[Seite 150]
"In der DDR selbst arbeitete die CV mit bestimmten Pfarrern zusammen, die - wie es im Arbeitsplan der Studiengruppe CV von 1985 im Blick auf Dresden heißt - 'äußerst aktive ZJ-Abwehr' betrieben. Auf Wunsch erhielten die Pfarrer der evangelischen und katholischen Kirche die Zeitschrift CV und wurden im Falle eigener Publikationswünsche in kirchlichen Zeitschriften mit Material versorgt."
"Da die WTG [Wachtturm-Gesellschaft der Zeugen Jehovas] 'antikommunistisch und damit gegen die sozialistische Gesellschaftsordnung' sei, kommentierte ein CV-Mitarbeiter, verstoße sie gegen eine 'die Menschen betreffende Ordnung'. Wer den 'politischen Mißbrauch der Religion gegen die sozialistische Gesellschaft' nicht wolle, müsse 'letztlich die Organisation der WTG verlassen'. Auch der Evangelische Pressedienst (epd) berichtete unter Berufung auf die 'Christliche Verantwortung' über das Binnenklima bei den Zeugen Jehovas. Unter der Moderation von Reinhard Henkys wurden solche Informationen auch im Deutschlandfunk weitergegeben und vom Schweizerischen Evangelischen Pressedienst übernommen.
Zusammen mit der Diskussion um die Zeitung 'Aus Christlicher Verantwortung' Mitte der neunziger Jahre ergeben sich daraus interessante sozialpsychologische Konstellationen. Nach Überzeugung der großkirchlichen Apologeten vertrat die Zeitschrift CV den richtigen Kurs. Sie sollte durch sog. 'Aufklärungsarbeit' die ZJ [Zeugen Jehovas] dazu bringen, von ihrer Religionsgemeinschaft Abstand zu nehmen. Genau diese Zielsetzung verfolgte auch das MfS, wobei es nicht von 'Aufklärungsarbeit', sondern von 'Zersetzung' sprach. Die ungeheure Verlegenheit, in der sich die kirchiche Apologetik befand, bestand nun darin, daß sie nicht nur ohne ihr Wissen mit dem MfS kooperiert hatte. Sogar nach dem Zusammenbruch der DDR beurteilte sie die Zeitschrift CV noch als so wertvoll, daß sie den vom MfS gebahnten Weg weiter verfolgte. Die Einstellung der Zeitschrift 1996 war eben nicht das Ergebnis einer kritischen Reflexion ihrer [Seite 152] Inhalte, sondern eine taktische Maßnahme. Es stand zu beführchten, daß die zutage getretene Stasi-Verwicklung negative Rückwirkungen auf die apologetische Arbeit der Kirchen nehmen könne. Dies dürfte auch eines der Hauptmotive gewesen sein, warum der EZW-Referent Andreas Fincke 1994 einen Artikel schrieb, in dem er die Behandlung der ZJ [Zeugen Jehovas] durch das MfS und andere DDR-Behörden sehr kritisch beurteilt. Darauf protestierte Klaus-Dieter Pape, der zu diesem Zeitpunkt das ganze Ausmaß der Stasi-Verstrickungen seiner Zunft wie seiner Familie noch nicht kannte, vehement und warf dem EZW-Referenten vor, er übernehme die Lesart der WTG [Wachtturm-Gesellschaft der Zeugen Jehovas]. Finckes Motiv, eine grunsätzliche Trennungslinie zwischen der 'Aufklärungsarbeit' der großkirchlichen Apologetik und der 'Zersetzungsarbeit' des MfS zu ziehen, wird auch dadurch deutlich, daß er - im Widerspruch zu zahlreichen Aussagen in den MfS-Akten und im Unterschied zu den von Klaus-Dieter Pape genannten Beispielen - die lebhaften Arbeitskontakte zwischen CV ["Christliche Verantwortung"] und Konfessionskundlern in West und Ost zu marginalisieren trachtete oder sie gar bestritt. An anderer Stelle räumte Fincke freilich ein, daß es bereits 'damals' Vermutungen über das Engagement der Stasi bei der 'Christlichen Verantwortung' gab. Diete Pape bezeichnete solche Vermutungen, für die es selbstverständlich Anhaltspunkte gab, als Verleumdung der 'Christlichen Verantwortung' durch die Wachtturm-Gesellschaft [der Zeugen Jehovas]. Trotz zahlreicher Hinweise auf eine regimenahe Förderung der Zeitschrift kam es zu einer lebhaften Kooperation mit kirchlichen Einrichtungen. Kurt Hutten zum Beispiel [...]"
Siehe auch Einleitung.