Johannes Stephan Wrobel, Referat, Universität Wien, Juridicum, 11. März 2005

GLAUBENSZEUGNISSE
UND WÜRDIGUNG DER OPFER

Zum Beitrag: „Auf Wiedersehen!“ – Abschiedsbriefe von zum Tode verurteilten Zeugen Jehovas im NS-Regime, in: Marcus Herrberger (Hg.), „Denn es steht geschrieben: ‚Du sollst nicht töten!’ Die Verfolgung religiöser Kriegsdienstverweiger unter dem NS-Regime mit besonderer Berücksichtigung der Zeugen Jehovas (1939–1945), Wien 2005.

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Gäste!

Bevor ich einen besonderen Dank ausspreche, lassen Sie uns bitte kurz zurückblicken.

Noch vor neun Jahren, im März 1996, wurde an einem Projekt gearbeitet, das aufzeigen sollte, WAS Frauen, Männern und Kindern in Deutschland und in Österreich und anderswo durch das verbrecherisches NS-Regime angetan wurde, weil sie Zeugen Jehovas oder Bibelforscher waren.

Gemeint ist die Videodokumentation „Standhaft trotz Verfolgung – Jehovas Zeugen unter dem NS-Regime“. Daran durfte ich damals zusammen mit James Pellechia und Jolene Chu in Brooklyn, New York, im Auftrage der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas arbeiten. Das Video visualisiert praktisch die verschiedenartigen Verfolgungsarten und weist den Weg zu den Forschungsfeldern in Verbindung mit der NS-Opfergruppe der Zeugen Jehovas. Auch die Hinrichtungen der religiösen Kriegsdienstverweigerer gehören dazu, und diesem Thema ist der heutige Abend und das Buch von Marcus Herrberger gewidmet.

Im April 1996, nach der Rückkehr aus Amerika, wurde in Selters/Taunus das Geschichtsarchiv der Zeugen Jehovas aus der Taufe gehoben und eine zentrale NS-Opferdatei begonnen. Bis heute dokumentieren wir, das WAS, das WO und das WIE OFT, um die Verfolgungsgeschichte auch statistisch zu konkretisieren.

In Verbindung mit der Österrreich-Premiere der Videodokumentation mit Pressekonferenz am 18. Juni 1997 in der KZ-Gedenkstätte Mauthausen erfolgte ein Zusammentreffen mit Heide Gsell in Wien, und sie begann mit großem Engagement das Verfolgtenarchiv für Österreich aufzubauen und zu pflegen.

Ziel und Aufgabe ist, das Erinnern (der Zeitzeugen) zu dokumentieren, das Gedenken (der Nachgeborenen) und die Forschungsarbeit (der Fachleute) zu fördern, zu unterstützen, zu begleiten, wobei Fachveröffentlichungen sehr zu begrüßen sind und das Wissen zugänglich machen.

Das ist teilweise gelungen. In vielen Bereichen – denkt man beispielsweise an die Haftstätten-Historiographien (dazu zählen viele Konzentrationslager und Strafanstalten) – ist diese Arbeit noch zu leisten.

Marcus Herrberger hat unermüdlich an einem dieser Themenfelder gearbeitet – den Kriegsdienstverweigerern – und es erfolgreich, praktisch ultimativ, zur Veröffentlichungsreife gebracht. Herzlichen Dank und Glückwunsch, lieber Marcus, zum Gelingen dieses Buches!

Dank an Professor Dr. Moos für das ausgezeichnete Vorwort, auch für seine Forschung im allgemeinen; ebenso an Professor Dr. Manoschek – Sie haben die NS-Opfergruppe der Zeugen Jehovas in Ihren wissenschaftlichen Arbeiten mit einbezogen.

Dank an Dr. Kohlhofer und den Verein Colloquium, der die Herausgabe in kurzer Zeit bewältigt hat, und an viele andere, die zum Gelingen entscheidend beigetragen haben.

Ich möchte die verbleibende Redezeit nutzen, um eine Zusammenfassung des Buchbeitrags „’Auf Wiedersehen!’ – Abschiedsbriefe von zum Tode verurteilten Zeugen Jehovas im NS-Regime“ zu geben.

In der Fachliteratur sind diese Abschiedsbriefe anfänglich weitgehend übersehen worden. Der Historiker Michael Kater bemängelte 1969: „Typisch für das allgemeine Desinteresse der Fachleute ist der Gedenkband, Letzte Briefe zum Tode Verurteilter 1939-1945,[1] nicht durch das, was er enthält, sondern durch das, was ihm fehlt: nicht ein einziger Abschiedsbrief von zum Tode verurteilten Bibelforschern ist hier zu finden, obschon solche vorhanden sind – den publizierten Beispielen an Aussagekraft keineswegs nachstehend!“.[2]

Es ist erfreulich, dass in neuerer Zeit ihre Abschiedsbriefe in der Fachliteratur Beachtung finden.[3]

Die letzten Gedanken der zum Tode verurteilten Zeugen Jehovas – einem Stück Papier anvertraut in der Erwartung, dass sie die Lieben daheim erreichen werden – sind sehr persönliche Zeugnisse. Die Briefe spiegeln eine ergreifende Tapferkeit, enge familiäre Bindungen sowie eine Bibelfestigkeit und urchristliche Glaubenszuversicht wider, die offenbar Berge von starken Emotionen – wie Abschiedsschmerz und Todesangst – zu versetzen vermochte. Auch viele Abschiedsbriefe von politischen Häftlingen, das sei hier hinzugefügt, „zeugen von menschlicher Größe“ (Ausstellungskatalog).[4]

Todeskandidat Wilhelm Letonja (Steiermark) bemerkte: „Ihr müßt meine Schrift entschuldigen, denn ich bin gefesselt und sehr behindert beim Schreiben.“[5] Die Justizvollzugsanstalten ließen das beschriebene Papier weiter befördern, und so erreichte der letzte Gruß nach etwa einer Woche den Adressaten.

Einige Texte gelangten heimlich aus der Todeszelle. Emil Ackermann konnte seiner Frau anlässlich ihres Besuches einen Brief zustecken, Bernhard Grimm versteckte Briefe in den Fußstützen, die seinen Eltern dann nach seiner Hinrichtung zugesandt wurden.

Der österreichische Zeuge Jehovas Gerhard Steinacher schrieb vor 65 Jahren, im März 1940, an seine Eltern: „Ich sitze hier in der Zelle, es ist jetzt ca. 1 h früh. Zwei Herren sind bei mir herinnen. Die Zeit verläuft rasend schnell. Ich schreibe den Brief auf Raten, wie es mir gerade einfällt. Es ist kalt draußen, es schneit wieder. Der Herr gebe Euch Kraft.“[6]

Die Todeskandidaten suchten Schlaf, oft fanden sie keinen. Hans Schulze schrieb der Mutter: „Ich werde morgen, den 9.5., um 5.40 Uhr hingerichtet. Ich sitze hier im Keller und warte auf den morgigen Tag, habe einen Teller Wurstschnitten und Kaffee und Bier zu essen und trinken. Zwei Wachbeamte sind mit hier und lassen es sich gut schmecken. Es wird bis morgen früh durchgewacht.“[7]

Der Gruß „Auf Wiedersehen!“ ist in den Abschiedsbriefen hingerichteter Zeugen Jehovas häufig zu finden, und der Beitrag geht auf die theologische Bedeutung dieses durchaus realen Abschiedsgrußes ein.

Exemplarisch werden vier Biografien von Hingerichteten und Erläuterungen ihrer letzten Briefe gegeben.[8] Der Anhang zitiert vier Abschiedsbriefe unkommentiert.[9]

Der Beitrag widmet sich ausführlich der Rolle, die die abgeschriebenen und vervielfältigten Abschiedsbriefe im Untergrund neben den illegalen Vervielfältigungen von Wachtturm-Literatur bis Kriegsende spielten.

Die Briefe traten bei Gestapo- und Justizvorgängen in Erscheinung, so als Gegenstand polizeilicher Ermittlungen, in Verhörprotokollen oder in Anklageschriften.

Mit der Zeit wussten Polizei und Justiz um die Wirkung dieser Briefe und zählten sie unter die verbotene Bibelforscher-Literatur.

Nach der Hinrichtung von Ludwig Cyranek (Juli 1941) und der Festnahme von Julius Engelhard (April 1943, Hinrichtung im August 1944) konnten andere beherzte Zeugen Jehovas (dazu gehörte Narciso Riet, der noch am 8. Mai 1945 hingerichtet wurde) eine Zeit lang die Arbeit im Untergrund fortsetzen, wozu auch die Verbreitung vervielfältigter Abschiedsbriefe gehörte.

Eine Anzahl Originalbriefe erreichte Verwandte, die sich selbst in Haft als Verfolgte aus Glaubensgründen befanden. Der KZ-Häftling Gustav Auschner erhielt in Neuengamme zweimal Abschiedsbriefe von seinen beiden Söhnen, wobei die Texte, wie ein Mithäftling sich erinnert, „zur stärkenden Ermutigung für alle Brüder, die noch hinter Gittern verblieben“ waren, und der Vater habe „allen Schmerz abgeklärt, gefaßt und vorbildlich“ ertragen.[10]

Einige Abschiedsbriefe konnten bis Anfang Anfang 1943 in der neutralen Schweiz veröffentlicht werden. Danach unterdrückte die Schweizer Zensur sie, und erst nach dem Krieg konnten wieder Briefe ungehindert im Druck erscheinen.[11]

Das Buch gibt eine Übersicht über die umfangreiche Sammlung von Abschiedsbriefen im Geschichtsarchiv der Zeugen Jehovas in Selters/Taunus – mindestens 13 Originalbriefe (geschrieben von eigener Hand durch Todeskandidaten) und über 60 andere erfasste Abschiedsbriefe (Kopien).

Es wird auch auf die Sammlung von Alois Moser aus Mondsee (Österreich) eingegangen, der sieben Konzentrationslager überlebt hatte, und der bis kurz vor seinem Tod im Oktober 1995 Abschriften solcher Briefe gern an Freunde versandt hat.

Die Abschiedsbriefe sind nicht nur historische Zeugnisse einer ungebrochenen religiösen Gesinnung. Von den letzten Briefzeilen geht eine Kraft aus, die viele Leser auf eine eigentümliche Weise berührt oder – unbeabsichtigt – beschämt, damals wie heute.

Es ist diese ungebrochene Überzeugung, die aus den letzten Zeilen der hingerichteten Zeugen Jehovas spricht und die verurteilten Männer ruhig und gefasst dem Henker entgegenblicken ließ. Ihr „Auf Wiedersehen!“ im Angesicht des Todes kann noch heute Mut machen, für Werte, Überzeugungen und Gewissensentscheidungen im Bewusstsein der „Verantwortung vor Gott und den Menschen“ (wie es in der Präambel des deutschen Grundgesetzes heißt) einzustehen, wie sie als Grundrechte auch von den Verfassungen geschützt werden.

Johannes S. Wrobel, Selters/Taunus


[1] Malvezzis, Piero und Pirelli, Giovanni (Hg.), DTV-Dokumente Nr. 34, München 1962.

[2] Kater, Michael H.: Die Ernsten Bibelforscher im Dritten Reich, in: Hans Rothfels und Theodor Eschenburg, Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Institut für Zeitgeschichte (Hg.). Stuttgart, April 1969, S. 182.

[3] Zu den Autoren gehören Albrecht und Heidi Hartmann, Heimo Halbrainer [Ö], Elke Imberger, Vinzenz Jobst [Ö], Detlef Garbe, Reinhard Moos, Herbert Steiner [Ö], Gyula Varga [Ö] und andere.

[4] Plattner, Peter (Leiter der Ausstellung): Das Zuchthaus. Eine Ausstellung über das faschistische Zuchthaus Brandenburg. O.A. (Berlin 1990), S. 90.

[5] Geschichtsarchiv der Zeugen Jehovas, Wachtturm-Gesellschaft, Selters/Taunus (WTA), Dok 01/09/42.

[6] Varga, Gyula: Er starb für Gottes Ehre – Wie der Mensch und die Akte Gerhard Steinacher vernichtet wurde. Hg. vom Schachendorfer Kulturkreis, Schachendorf 1998, Anhang, S. XIX.

[7] WTA Dok 08/05/41.

[8] Hermann Abke (Herford), Emil Ackermann (Werdau/Sachsen – der Abschiedsbrief an seine Frau weist eine Besonderheit auf: Am Anfang stehen seine letzten Gedanken in Gedichtform.), Karl Bühler (Neulußheim/Baden-Württemberg) und Bernhard Grimm (Baltmannsweiler/Baden-Württemberg).

[9] Wilhelm Kusserow, Wilhelm Letonja, Michael Schuster und Walter Thumann.

[10] Erinnerungsbericht vom 25.4.1971, S. 16 f., WTA LB Willi Karger.

[11] Trost, 1.11.1945, S. 5, Fußnote.