Müller, Lubomir / Slupina, Wolfram: Verfolgung und Unterdrückung der Zeugen Jehovas in der Tschechoslowakei, in: Kirchliche Zeitgeschichte (KZG), Internationale Halbjahresschrift für Theologie und Geschichtswissenschaft, 1 (2004), S. 171-221.


Übersicht

1.                   Einführung in den historiographischen Kontext

2.                   Vorgeschichte

3.                   Repression unter dem Nationalsozialismus

3.1.1.       Sudetengebiete (1. Oktober 1938-1945)

3.1.2.       Tschechien (15. März 1939-1945)

4.                   Slowakei

4.1.             Unterdrückung unter der ungarischen Okkupation slowakischer Gebiete (15. März 1939-März 1944) und der anschließenden Besetzung durch Deutschland (März 1944-1945)

4.1.1.       Das Zwangsarbeitslager (ZAL) Bor und der Todesmarsch von dort

4.2.             Karpato-Ukraine (ab 15. März 1939)

5.                   Statistik zur Opfergruppe der tschechoslowakischen ZJ (1938-1945)

6.                   Nachkriegsgeschichte bis zum Verbot (1945-4. April 1949)

6.1.             Aus- und Umsiedlungspolitik der tschechoslowakischen Nachkriegsregierung

6.2.             Die Wehrpflicht

6.3.             Zunehmende Schwierigkeiten

7.                   Verfolgung und Repression unter dem Kommunismus (4. April 1949–1989)

7.1.             Prozesse

7.2.             Arbeitslager

7.3.             Bemühungen um die Legalisierung ihrer Religionsausübung

7.4.             Kooperationsversuche des Staatssicherheitsdienstes (StB)

7.5.             Amnestie (1960) mit anschließender „Tauwetter“-Phase

7.6.             Unterdrückung in der Zeit der „Normalisierung“

7.7.             Weitere Bemühungen um eine gesetzliche Registrierung bis zu ihrer Realisierung

8.                   Rehabilitierung und Resümee


ZITATE

[S. 171]

1. Einführung in den historiographischen Kontext

Die öffentliche Rezeption der Verfolgungsgeschichte von Jehovas Zeugen[1](ZJ) auf dem tschechoslowakischen Territorium, der heutigen Tschechischen (CR) und Slowakischen Republik (SR), ist bisher nur sehr gering. Ähnlich wie in der früheren DDR[2] und in Polen[3]hat es für die Mitglieder der Religionsgemeinschaft in der ehemaligen Tschechoslowakei (CSR / CSSR / CSFR[4]) eine staatliche Repression sowohl unter den Nationalsozialisten als auch anschließend unter den Kommunisten gegeben[5]. Darüber hinaus erlebten eine ganze Reihe von Zeugen Jehovas in [S. 1721] einem Teil des slowakischen Gebietes von 1939 bis 1945 Prosekution und religiöse Unterdrückung durch die vom Deutschen Reich geduldete ungarische Okkupation.

Die NS-Verfolgung begann für ZJ, insbesondere nachdem Hitler seine Expansionspolitik mit der Unterzeichnung des Münchener Abkommens am 30. September 1938[6]auch auf das Hoheitsgebiet der CSR ausgeweitet hatte. Das betraf zuerst die überwiegend von Deutschen bewohnten Sudetengebiete, die am 1. Oktober 1938 von deutschen Truppen besetzt wurden, und ab dem 14./15. März 1939 auch das gesamte übrige tschechische Staatsgebiet. Mit der Unterzeichnung des „Erlasses über das Protektorat Böhmen und Mähren“[7] am Tag darauf (16. März) wurde Hitler zur alleinigen Rechtsquelle und Autorität erhoben, vertreten durch einen von ihm eingesetzten „Reichsprotektor“.

Die am 14. März 1939, also nur zwei Tage zuvor, als neuer Staat ausgerufene Slowakei behielt trotz massiven Einflusses von seiten des Deutschen Reiches eine erhebliche Selbständigkeit. Doch mit der Besetzung einer sogenannten Schutzzone im Westen des Staatsgebiets durch die deutsche Wehrmacht und dem Vordringen ungarischer Truppen über die Südostgrenze der Slowakei mit nachfolgender Gebietsabtrennung am 15. März 1939 an Ungarn brach auch hier eine harte Verfolgungswelle über ZJ herein. Von der deutschen und ungarischen Annexion waren in der Tschechoslowakei bis 1939 ca. drei Viertel der Mitglieder dieser Religionsgemeinschaft unmittelbar betroffen[8]. Dem Versuch der ungarischen Regierung, gegen Ende des Krieges Friedensverhandlungen mit den Alliierten aufzunehmen, kam Deutschland zuvor und besetzte Ungarn am 19. März 1944. Damit geriet auch die Bevölkerung in den von Ungarn zuvor okkupierten slowakischen Gebieten in die gnadenlose deutsche Verfolgungsmaschinerie. Erst mit Kriegsende kamen diese 1938 und 1939 verlorenen Territorien an die erneut in die Tschechoslowakei integrierte Slowakei zurück.

Die nicht mehr in den 1945 wiedererstandenen Staatsverband zurückkehrende Karpato-Ukraine wird in dem vorliegenden Beitrag ebenfalls berücksichtigt. Auch hier kam es durch die Annexion des faschistischen Ungarns am 15. März 1939 und danach durch die deutsche Besetzung [S. 173] Ungarns am 19. März 1944 sowie schließlich durch die Besetzung der sowjetischen Roten Armee im Oktober 1944 mit der sich anschließenden formellen Angliederung an die Sowjet-Ukraine am 5. Dezember 1945 nacheinander zur Verfolgung und Unterdrückung von ZJ unter 3 unterschiedlichen Diktaturen.

Die Unterdrückung der Religionsgemeinschaft dauerte in Tschechien ca. 6 Jahre während der nationalsozialistischen Okkupation (1939-1945), in den an Ungarn abgetretenen slowakischen Gebieten fast ebenso lange in dem gleichen Zeitraum sowie in dem gesamten tschechoslowakischen Gebiet mehr als 40 Jahre unter der kommunistischen Herrschaft - von der Machtübernahme der Kommunisten 1948 und dem Verbot am 4. April 1949 bis zur erneuten offiziellen Registrierung als Religionsgemeinschaft für die Slowakei noch in der CSFR am 11. November 1992 und für Tschechien in der CR am 1. September 1993.

Außer zwei Selbstdarstellungen der Religionsgemeinschaft und einer Artikelserie in ihrem offiziellen tschechischen Organ „Probudte se!“ zu ihrer Verfolgung und Repression in der ehemaligen Tschechoslowakei unter den Nationalsozialisten und Kommunisten[9], einigen veröffentlichten Erlebnisberichten[10] sowie einem historischen Kompendium zur Verfolgungsgeschichte der ZJ zwischen 1938 und 1945[11], einem kurzen [S. 174] Geschichtsabriß zu einigen Aspekten der Unterdrückung unter dem kommunistischen Regime[12] und einer Abhandlung zu einigen Fällen der Wehrdienstverweigerung von ZJ unter dem Kommunismus und in der Zeit danach[13]gibt es keine wissenschaftliche Historiographie zu dieser speziellen Thematik, die auch vorhandenes Archivmaterial außerhalb der bei der Religionsgemeinschaft archivierten Dokumente berücksichtigt[14]. Detlef Garbe resümiert in Verbindung mit der „Gesamtzahl aller ausländischen Zeugen Jehovas in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern“, die er mit „über 1.000“ angibt: „Keine genauen Angaben liegen für die - zumeist kleineren Gruppen - aus Jugoslawien, der Sowjetunion, der Tschechoslowakei und Ungarn vor.“[15] Der vorliegende Beitrag soll dieses Forschungsdefizit, was die nationalsozialistische und ungarische faschistische Verfolgung und Inhaftierung tschechoslowakischer ZJ angeht, durch die Veröffentlichung neuster Forschungsergebnisse ausgleichen. Darüber hinaus wird auch eine historische Bilanz der sich anschließenden, über 40jährigen Verfolgung und Unterdrückung unter dem Kommunismus gezogen. Allerdings kann die vorliegende Dokumentation keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben, da bei den Recherchen festzustellen war, daß viele Dokumente aus der NS-Zeit durch die kommunistische Verfolgung verlorengegangen sind und somit viele Einzelschicksale im dunkeln bleiben müssen, da außerdem dazu keine Zeitzeugen mehr befragt werden können. Das trifft zum Teil auch auf die Anfangsphase der kommunistischen Repression zu.



[1] Zur Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas (ZJ) vgl. KZG 15/1 (2002), 321 f.

[2] Vgl. Detlef Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium: die Zeugen Jehovas im „Dritten Reich“ (Studien zur Zeitgeschichte 42), München 41999; Hans Hesse (Hg.), „Am mutigsten waren immer wieder die Zeugen Jehovas“: Verfolgung und Widerstand der Zeugen Jehovas im Nationalsozialismus, Bremen 22000; Jens-Uwe Lahrtz, „Maulwürfe unter religiöser Tarnung“. Maßnahmen gegen Zeugen Jehovas in Sachsen während ihrer Verfolgung durch die nationalsozialistische Diktatur und durch den SED-Staat, in: Sächsische Justizgeschichte 8, Dresden 1998, 59-92; Gerald Hacke, Zeugen Jehovas in der DDR. Verfolgung und Verhalten einer religiösen Minderheit (Berichte und Studien 24), Dresden 2000; Gabriele Yonan, Jehovas Zeugen: Opfer unter zwei deutschen Diktaturen 1933–1945; 1949–1989, Berlin 1999; dies. (Hg.), Im Visier der Stasi. Jehovas Zeugen in der DDR, Niedersteinbach 2000; Hans-Hermann Dirksen, „Keine Gnade den Feinden unserer Republik“: die Verfolgung der Zeugen Jehovas in der SBZ/DDR 1945–1990 (ZGF 10), Berlin 22003; Gerhard Besier/Clemens Vollnhals (Hgg.), Repression und Selbstbehauptung: Die Zeugen Jehovas unter der NS- und der SED-Diktatur (ZGF 21), Berlin 2003.

[3] Vgl. Jürgen Ordowski/Jan Scheider, Jehovas Zeugen in Polen 1936-1945: eine historiographische Bilanz, in: KZG 15/1 (2002), 263-289; Wolfram Slupina, Jehovas Zeugen in Polen 1945-1989: die Verfolgungsgeschichte einer religiösen Minderheit, aaO., 319-347.

[4] Ceskoslovenská republika (Tschechoslowakische Republik, CSR): 1918-1938 und 1945-1960; Ceskoslovenská socialistická republika (Tschechoslowakische Sozialistische Republik, CSSR): 1960-1990; Ceskoslovenská federativní republika (Tschechoslowakische Föderale Republik): 1990; Ceská a Slovenská federativní republika (Tschechische und Slowakische Föderative Republik, CSFR): 1990-1992.

[5] Vergleichbare Repressionen von ZJ durch zwei ideologisch unterschiedliche Regierungen gab es auch in Ungarn und Rumänien; vgl. Hans-Hermann Dirksen, Eine doppelte europäische Diktaturerfahrung: Die Verfolgung der Zeugen Jehovas in Rumänien und Ungarn, in: Besier/Vollnhals, Repression, aaO. (Anm. 2), 327-357; ders., Botschafter für das andere Königreich, in: Der neue Pester Lloyd 9 (23), 5.6.2002, 5; ders., Wir werden dich für zehn Jahre einsperren ..., in: Der neue Pester Lloyd 9 (24), 12.6.2002, 5.

[6] Das Abkommen wurde am 30.9.1938 um 1.30 Uhr unterzeichnet; vgl. Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.), Tschechien (Informationen zur politischen Bildung 276), 3/2002, 10.

[7] Veröffentlicht im Reichsgesetzblatt 1939, Teil I, Nr. 47, 485-488; Verordnungsblatt des Reichsprotektors Nr. 2, 1939 (dt. und tschech.); Sbírka zákonu a narízení, Nr. 28; Gesetzessammlung (GS), 17.3.1939, Nr. 75/1939.

[8] Vgl. Jahrbuch 1940 der Zeugen Jehovas (JB 1940), Bern 1939, 270.

[9] Ein Überblick über die Entwicklung des Werkes der ZJ in dem Gebiet der gesamten ehemaligen Tschechoslowakei zwischen 1912 und 1970 wurde im Jahrbuch der Zeugen Jehovas 1972 (JB 1972), Wiesbaden 1972, 125-171 veröffentlicht; der Bericht im Jahrbuch der Zeugen Jehovas 2000 (JB 2000), Selters/Ts. 2000, 149-223 geht darüber hinaus bis zum Jahr 1999, konzentriert sich aber bei der Berichterstattung im wesentlichen auf das Gebiet, das heute die CR ausmacht; zur Verfolgungsgeschichte in Tschechien unter den Nationalsozialisten vgl. Probudte se! 80 (13), 8.7.1999, 28 ff.; 80 (17), 8.9.1999, 28 ff.; in Tschechien unter dem Kommunismus vgl. Probudte se! 81 (1), 8.1.2000, 28 ff.; 81 (5), 8.3.2000, 28 ff.; 81 (9), 8.5.2000, 28 ff.; 81 (13), 8.7.2000, 28 ff.; 81 (17), 8.9.2000, 28 ff.; 81 (21), 8.11.2000, 28 ff.

[10] Die Erlebnisberichte (EB) von Ján Korpa-Ondo, in: Wachtturm (WT) 119 (17), 1.9.1998, 24-28, Andrej Hanák, in: EW 83 (8), 22.4.2002, 19-24 und Ján Bali (Bali-Kotora), in: Erwachet! (EW) 83 (24), 22.12.2002, 19-23, geben Hintergrundinformationen zur Verfolgungszeit in dem Teil der Slowakei, der ab 1938 von der ungarischen Okkupation betroffen war, sowie unter der kommunistischen Herrschaft (1948-1989). Zur kommunistischen Repression siehe auch EB von Jarmila Hálová, in: EW 76 (8), 22.4.1995, 18-24, von Ondrej Kadlec, in: EW 77 (8), 22.4.1996, 12-18 sowie von Ladislav Šmejkal, in: EW 83 (12), 22.6.2002, 19-23.

[11] Herbert Adamy a kolektiv (Hgg.), Fialové trojúhelníky, Prag 2000; vgl. außerdem Zdenek Bauer, Antisemitsky ladené útoky namírené proti svedkum Jehovovým a mimorádný lidový soud s Karl Eichlerem, in: Ústav pro soudobé dejiny Akademie ved Ceské republiky Slezský ústav Slezského zemského muzea (Hgg.), Poválecná justice a národní podoby antisemitismu, Prag-Opava 2002; „Veznové s fialovým trojúhelníkem – Svedkové Jehovovi“, in: Hlas revoluce, 21.8.1970, veröffentlicht von der Tschechoslowakischen Vereinigung der Antifaschisten sowie „Svedkové Jehovovi – Heftlinci s fialovým trojúhelníkem“, in: Národní osvobození, 4.12.2003, veröffentlicht von der Tschechischen Vereinigung der Freiheitskämpfer und dem Frontkämpferverband der Tschechoslowakei.

[12] Herbert Adamy, Byl jsem manažerem ilegální továrny, Prag 1999.

[13] Lubomír Müller, Bitvy beze zbraní 1990-2000. Co užitecného prinesly soudní procesy s odpíraci vojenské služby, Prag 2000.

[14] Lediglich marginal zu gewissen Aspekten bei Garbe, Widerstand, aaO. (Anm. 2), 326; 339 f.

[15] Garbe, Widerstand, aaO. (Anm. 2), 496; vgl. auch die 1. Aufl. (1993, 484) sowie Thomas Rahe, Zeugen Jehovas im Konzentrationslager Bergen-Belsen, in: Hesse, „Am mutigsten [...]“, aaO. (Anm. 2), 131.


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