"Heil Hitler kann ich nicht sagen" – Faltblatt über Elly Reulecke-Baar (1898–1989), verfolgte Opernsängerin im NS-Regime (Hg. Der Landrat des Landkreises Hannover).

Einführungsreferat von Johannes Stephan Wrobel, 30. Juni 2000.


 

„Heil Hitler kann ich nicht sagen.“ Die Verfolgung der Zeugen Jehovas in der NS-Zeit. Vorstellung des gleichnamigen Informationsblattes.

Mahn- und Gedenkstätte Ahlem des Landkreises Hannover
Freitag, 30. Juni 2000, 19 Uhr

 

Sehr geehrte Frau Lehmberg!

Liebe Zeitzeugen!

Sehr geehrter Herr Dr. Garbe,
meine sehr verehrten Damen und Herren!

 

Herzlichen Dank für Einladung.
Vielen Dank für die Herausgabe des gelungenen Informationsblattes durch den Landrat und das Kulturamt des Landkreises.

 

Um Ihnen das Informationsblatt vorzustellen, schlage ich vor, Teile daraus zu kommentieren, soweit es die zur Verfügung stehende Redezeit erlaubt.

 

Auf der Titelseite, und auch inhaltlich im Mittelpunkt, steht Else oder Elly Baar, nach ihrer Heirat Elly Reulecke-Baar, eine Zeugin Jehovas und Bürgerin Hannovers.

 

Sie ist 1989 verstorben. Geboren war sie allerdings in Landsberg an der Warthe am 9. Mai 1898. Sie siedelte wahrscheinlich schon früh zusammen mit ihre Mutter nach Hannover um.

 

Wir wissen aus ihrem Lebensbericht, daß sie als Opernsängerin am Stadttheater Stargard (Pommern) arbeitete, bevor sie nach Berlin ging, um ihre Studien zu ergänzen. Dort lernte sie die Bibelforscher kennen und nahm deren Glauben an.

 

Sie kehrte im Dezember 1927 nach Hannover zurück, wohnte in der Celler Straße 103 und arbeitete als Opernsängerin und Musiklehrerin. Die Celler Straße liegt in der Mitte Hannovers, nicht allzu weit vom Hauptbahnhof entfernt. (Wie ich heute von Herrn Hoffmann erfahren habe, wohnte sie später, offenbar nach 1945, in der Lister Meile 85, 3. Stock rechts. Solche detaillierte Angaben erhält man, wenn man es mit Zeitzeugen zu tun hat.)

 

Sie begleitete den Gesang der Bibelforscher-Gemeinde am Klavier, die in einer Schulaula im Zentrum der Stadt zu ihren gottesdienstlichen Versammlungen zusammenkam. Damals gab es noch eine „Kinderschule“ der Bibelforscher, in der sie als Lehrerin eingesetzt war.

 

Ihre Bemerkung„‘Heil Hitler‘ kann ich nicht sagen“ weist auf ein wesentliches und wichtiges Merkmal der Angehörigen dieser Glaubensgemeinschaft im Verhalten der staatlichen Obrigkeit gegenüber hin, das allerdings auch bis heute Anlaß zu Irritationen und Mißverständnissen gibt, obgleich die Haltung der Zeugen Jehovas von großer Zivilcourage zeugt.

 

In Hitler-Deutschland führte das widerständige Verhalten – „‘Heil Hitler‘ kann ich nicht sagen“ – zu massiven Gegenmaßnahmen, sprich: Verfolgung, von seiten der Behörden, der Polizei, der Justiz, ja von Teilen der Bevölkerung, die sich der nationalsozialistischen Weltanschauung gegenüber verpflichtet fühlten und keine andere Meinung tolerieren wollten und durften.

 

Bevor ich auf diesen Punkt eingehe, möchte ich zu einigen Ereignissen im Leben von Frau Reulecke-Baar kommen, die im Informationsblatt erwähnt werden.

 

Sie beteiligte sich zum Beispiel an der Flugblattaktion vom 12. Dezember 1936 und verbreitete, wie später Gestapobeamte zu Protokoll gaben, „etwa 50 - 60 Stück […] in der Isernhagener Straße in Hannover“. (Die Isernhagener Straße liegt ganz in der Nähe ihrer Wohnung in der Celler Straße im Zentrums Hannovers.)

 

Worum handelt es sich bei dieser Flugschrift? Eine Abbildung ist in einem Buch der Stadt München, das 1998 im Rahmen der Ausstellung „Widerstand, Verweigerung und Protest gegen das NS-Regime in München“ entstand, zu sehen. In dem Flugblatt, eine Kongreßresolution, die im September 1936 in der Schweiz gefaßt wurde, heißt es unter anderem: „Das Gesetz Gottes ist das höchste Gesetz. Gott ist erhaben über allem, und gleichwie Jesus und die Apostel Gott vor allen Dingen und zu allen Zeiten dienten und bezeugten, dies tun zu wollen, so erklären auch wir, daß wir Gott mehr gehorchen wollen als den Menschen. Wir rufen alle gutgesinnten Menschen auf, davon Kenntnis zu nehmen, daß Jehovas Zeugen in Deutschland, Österreich und anderswo grausam verfolgt, mit Gefängnis bestraft, und auf teuflische Weise mißhandelt und manche von ihnen getötet werden.“

 

Über die Verteilung dieses Flugblattes stellt Dr. Elke Imberger, Oberarchivrätin des Landesarchivs Schleswig-Holstein, fest: „Die Verbreitung der ‚Resolution‘ [am 12. Dezember 1936] und des ‚Offenen Briefs‘ [am 20. Juni 1937 waren] nicht nur eine besonders spektakuläre, sondern auch eine neue Form der öffentlichen Verkündigungstätigkeit . . . [Es handelte sich] um reichsweite Aktionen, die so gut koordiniert waren, daß sie in ganz Deutschland am selben Tag zur selben Zeit stattfinden konnten. . . . Während der ganzen NS-Zeit gab es in Deutschland keine andere Widerstandsorganisation, die eine vergleichbare Initiative durchführte“ (Widerstand „von unten“. Widerstand und Dissens aus den Reihen der Arbeiterbewegung und der Zeugen Jehovas in Lübeck und Schleswig-Holstein 1933–1945, Neumünster 1991, S. 345.).

 

Abbildungen der beiden genannten Flugblätter finden Sie übrigens auch in unserer Broschüre Lila Winkel – die ‚vergessenen Opfer‘ des NS-Regimes. Die Geschichte eines bemerkenswerten Widerstandes, Seite 7. Ausgaben dieses Heftes liegen für Sie bereit.

 

Greifen wir eine weitere Begebenheit aus dem Informationsblatt – aus dem Leben von Frau Reulecke-Baar – heraus. Sie schildert, wie sie in die Frauenkonzentrationslager Moringen und Lichtenburg kam. Sie finden diese Stelle im Informationsblatt über dem Foto des Aufdrucks auf KZ-Briefen: „Die Schutzhaftgefangene ist nach wie vor hartnäckige Bibelforscherin und weigert sich, von der Irrlehre der Bibelforscher abzulassen.“

 

Sie schreibt: „Wir blieben nicht lange in Moringen, wurden in dunkler Nacht abtransportiert nach Lichtenburg in der Nähe von Torgau.“

 

Neuere Forschungen von Hans Hesse und Jürgen Harder aus Göttingen erhärten, worauf Herr Dr. Garbe bereits in seiner Dissertation hingewiesen hatte: Der Anteil der Bibelforscherinnen oder Zeugen Jehovas an der Belegschaft der frühen Frauen-KZ war weitaus höher als allgemein bekannt ist.

 

Für Moringen sind die Zeuginnen Jehovas seit 1935 nachweisbar. Im Juni 1937 machten Zeuginnen Jehovas dort einen Anteil von 17% aus, der in den folgenden Monaten stieg – bis auf 80% im Oktober und sogar auf 89% im Dezember. In diesem Monat, Dezember 1937, traf der erste Transport von Frauen aus dem Frauen-KZ Moringen in Lichtenburg ein. Weitere Transporte folgten. Insgesamt befanden sich im März 1938 etwa 500 Frauen auf der Lichtenburg – der weitaus größte Teil von ihnen waren Zeuginnen Jehovas. Auch hier kommt Hans Hesse zu überraschenden Ergebnisse: Die Zeuginnen Jehovas stellten in den Jahren 1937/1938 mit 45,9% die größte Häftlingsgruppe.

 

Im Mai 1939, nach der Räumung dieses KZ, kamen die Frauen in das neue Lager Ravensbrück, wo am 21. Mai unter den 974 registrierten Häftlingen in Ravensbrück 388 Bibelforscherinnen waren – das sind über 39,8 Prozent. Der prozentuale Anteil sank allerdings über die Jahre kontinuierlich bis auf nachweisbare 9% bereits 1942 (Quelle: Hans Hesse). In dem erst kürzlich verlegten, neuen Werk Kalendarium der Ereignisse im FKL Ravensbrück 1939-1945 (von Grit Philipp, Berlin 1999) spielen die Zeuginnen Jehovas dagegen eine nur marginale Rolle.

 

Zurück zu Elly Reulecke-Baar. Ihr wurde, wie allen anderen inhaftierten Zeuginnen Jehovas, eine sogenannte „Verpflichtungserklärung“ zur Unterschrift vorgelegt. Wie erwähnt, finden Sie eine Abbildung davon im Informationsblatt.

 

Der Text solcher Erklärungen variierte im Laufe der Zeit von relativ „harmlosen“ und für einen Zeugen Jehovas durchaus „akzeptablen“ Text bis zu Formulierungen, die zur Abschwörung des Glaubens und Anzeige der ehemaligen Mitbrüder verpflichten sollten. Obwohl relativ wenige unterschrieben, ist Unterschrift hier nicht immer gleich Unterschrift. Gerade das Beispiel Elly Reulecke-Baars, die aufgrund einer Unterschrift freikam, ermuntert zu einer differenzierten Beurteilung solcher Fälle.

 

Übrigens veröffentlichten Jehovas Zeugen in der Schweiz bereits im Jahre 1938 das Foto einer „Verpflichtungserklärung“ in dem Buch Kreuzzug gegen das Christentum.

 

Der Titel des Informationsblattes, „‘Heil Hitler‘ kann ich nicht sagen“ Die Verfolgung der Zeugen Jehovas, ist gut gewählt, weist er doch, wie erwähnt, auf das besondere Verhalten der Zeugen Jehovas staatlichen Macht gegenüber hin, was bis heute Anlaß zu Mißverständnissen gibt. Selbst einige Fachhistoriker haben die falsche Information verbreitet, Jehovas Zeugen lehnen jegliche staatliche Autorität ab.

 

In Wirklichkeit haben Jehovas Zeugen damals wie heute die Autorität des Staats und seiner Organe respektiert, folgten jedoch gleichzeitig der biblischen Maxime: „Gott, dem Herrscher, mehr gehorchen als den Menschen“ (Apostelgeschichte, Kapitel 5, Vers 29). Sie finden dieses Bibelzitat auf der zweiten Seite des Informationsblattes, ganz unten.

 

„Heil Hitler“ kann ich nicht sagen, aber den Staat respektiere ich!

 

Frau Reulecke-Baar – sie stand damals vor dem Lagerkommandanten in Lichtenburg – wies darauf wie folgt hin, und im Informationsblatt finden Sie Ihre Worte über dem Foto der „Verpflichtungserklärung“: „Da legte er mir einen kleinen Zettel vor, worauf stand, dass ich dem christlichen Glauben gemäß leben wolle und die Landesgesetze respektiere. … Ich sagte: ’ Die Landesgesetze haben wir immer respektiert, aber ’Heil Hitler!’ kann ich nicht sagen.“

 

„Die Landesgesetze haben wir immer respektiert.“ – Ja, Jehovas Zeugen sind gesetzestreue Bürger und damit eine Bereicherung für jedes Gemeinwesen. Sie glauben nicht, daß jede Regierung vom Teufel eingesetzt ist, wie in der NS-Zeit und bis heute immer wieder fälschlich von Personen unterschiedlichster Herkunft kolportiert wird. Manche Herrscher und irdische Regierungen haben teuflische Eigenschaften offenbart, als sie zahllose unschuldige Menschen kaltblütig ermorden und dann die toten Körper beseitigen ließen. Daher glauben Jehovas Zeugen, daß einige Regierungen in der Vergangenheit tatsächlich unmittelbar unter dem direkten Einfluß des Teufels und seiner Dämonen, der gefallenen Engel, gestanden haben müssen.

 

Die biblische Lehre von der zeitlich befristeten Macht Satans über die Welt und ihre Systeme ist für Jehovas Zeugen eine befriedigende Erklärung dafür, warum Gott das Böse aus bestimmten Gründen eine Zeitlang zuläßt und auch dafür, daß der Allmächtige für das Elend und das Leid auf unserem Planeten auf keinen Fall verantwortlich gemacht werden kann.

 

Warum kommt es dann manchmal zu Konflikten zwischen gewissen Staatsformen und Jehovas Zeugen? Weil Jehovas Zeugen die Gebote der Bibel ausleben, zum Beispiel, was Jesus Christus gemäß Markus Kapitel 13, Vers 17 sagte: „Zahlt Cäsars Dinge Cäsar zurück, Gottes Dinge aber Gott.“

 

Zu den Dingen, die Gott unabdingbar gehören, zählen für Jehovas Zeugen das Leben und die Anbetung. Ihr Leben haben sie Gott hingegeben und bilden eine internationale friedfertige Bruderschaft. Daher konnten sie keinen Eid darauf leisten, ihr Leben für den „Führer“ oder das Vaterland, ganz gleich in welchem Land der Erde sie lebten, zu opfern. Ihr christlicher Glaube verbot ihnen, anderen Menschen Gewalt anzutun. Und einem Menschen „Heil“ zuzuschreiben, wenn doch Heil oder Rettung nur von Gott und Christus kommen, war gegen ihr biblisch geschultes Gewissen.

 

„Heil Hitler kann ich nicht sagen!“

 

Im Informationsblatt finden Sie auf der zweiten Seite im ersten Absatz einen Hinweis auf die Religionsausübung, und diese Hintergrundinformation ist dankenswerter Weise von der Redaktion durch Frau Lehmberg (und Herrn Dr. Garbe) hinzugefügt worden: „Die Zeugen Jehovas verstehen sich als die bibeltreuen Untertanen einer Theokratie, als ‚Gottes Volk‘.“

 

Es war das bibeltreue Ausleben urchristlicher Standpunkte, das Elly Reulecke-Baar in Konflikt mit dem totalitären Staat brachte.

 

Übrigens sprach die christliche Urgemeinde des 1. Jahrhundert u. Z. von sich als von „Gottes Volk“, so im 1. Petrusbrief, Kapitel 2, Vers 10, wo der Apostel an die Gemeinde in Palästina schrieb: „Denn einst wart ihr kein Volk, jetzt aber seid ihr Gottes Volk.“

 

Weiter heißt es im Informationsblatt: „Die kirchliche Glaubenslehre wird in ihren Hauptstücken abgelehnt.“

 

Dazu ein kurzer, erklärender Hinweis aus dem Lexikon der Hamburger Religionsgemeinschaften. Religionsvielfalt in der Stadt von A-Z. (hg. Von Wolfgang Grünberg u.a., Seminar für Praktische Theologie der Universität Hamburg, Hamburg 1995, S. 121): „Jehovas Zeugen glauben an den Vater (Jehova), den Sohn (Jesus Christus) und den heiligen Geist. Sie lehnen jedoch die Lehre von der Dreieinigkeit ab. […] Jehova Gott, der allmächtige Vater, ist mit seinem Sohn Jesus Christus zwar wesensgleich (=göttlich), doch nicht wesensein (= nicht eine Person); der heilige Geist ist keine Person, sondern Gottes unsichtbare wirksame Kraft.“

 

Jehovas Zeugen sind zwar keine Trinitarier – die Tradition, einen dreifaltigen Gott anzurufen, gehört seit dem 3. und 4. Jahrhundert zum Kernstück kirchlicher Glaubenslehre –, doch sie glauben an Jesus Christus, sein Lösegeld und das Kommen einer himmlischen Regierung, um das sie im Vaterunser („Dein Reich komme!“) beten. Aus der langen Kirchengeschichte kennen wir viele Gruppen, die die Dreifaltigkeitslehre ablehnten und dafür büßen mußten. Die Zeugen Jehovas ließen sich nicht beirren: Das Tausendjährige Friedensreich auf Erden würde Jehova Gott durch seinen Christus, nicht Herr Hitler aufrichten. Und da sie darin zu leben wünschten und an die irdische Auferstehung der Toten glaubten, waren sie sogar bereit, für diese Überzeugung zu sterben.

 

Doch kehren wir noch einmal zurück zu Frau Reulecke-Baar. In dem Informationsblatt wird aus ihrem Lebensbericht zitiert, einem Brief an die Wachtturm-Gesellschaft vom 1. Februar 1971, der sich heute im Geschichtsarchiv der Zeugen Jehovas in Selters/Taunus befindet. Er beginnt mit den Worten: „Liebe Brüder! Zu Jehovas Ehre will ich diesen Bericht geben und damit anfangen, wie ich die Wahrheit kennen lernte.“

 

[Dieser Teil wurde aus Zeitgründen weggelassen.] Hier ein Auszug, der zeigt, daß die Religionsgemeinschaft schon damals auf Vorurteile und Vorbehalte stieß:

 

„Dort [in Berlin] angekommen, treffe ich einen Kollegen, der mir erzählt, er wohnt bei einer Bibelforscherin (auch einer früheren Opernsängerin, Schw[ester] Pasant). Diese habe ihm einige interessante Dinge aus der Bibel erzählt. Ich erwiderte sofort: ‚Laß mich mit dieser Sekte in Ruhe, ich glaube nicht mehr, was die Kirche sagt, noch viel weniger was diese Fanatiker sagen.‘ (Ich war durch den 1. Weltkrieg vom Glauben gänzlich abgekommen. Ich sagte mir: Einen [einzige] Gott gibt es nur. Die Gebete welchen Landes soll er denn erhören? Alle Völker beteten für ihre Angehörigen im Felde und den Sieg.) Der Kollege sagte mir: ‚Das ist etwas ganz anderes als wie die Kirchen sagen. Am nächsten Sonntag ist ein Vortrag in der Philharmonie (einer der damals größten Säle Berlins). Wollen wir nicht einmal hingehen?‘ Ich antwortete: ‚Hingehen können wir ja. Man soll sich ja erst alles anhören und dann urteilen.‘

Also gingen wir hin. Ich war sehr überrascht von dem, was ich da hörte, glaubte aber nicht, daß derartiges in der Bibel steht. Also kaufte ich mir eine kleine Lutherbibel für 1.00 Mark und das Buch „Die Harfe Gottes“ für 80 Pfennig.“

 

Machen wir einen Sprung zu einer (anderen) Begebenheit in ihrem Bericht:

 

Das berühmte „Photo-Drama der Schöpfung“ bzw. „Schöpfungsdrama“ war eine kostenlose, achtstündige Vorführung (vier Teile von je zwei Stunden), die mittels Bild und Ton von der biblischen Schöpfungsgeschichte durch die Weltgeschichte bis zum Ende der verheißenen Tausendjahrherrschaft Jesu Christi führte. Elly Reulecke-Baar erinnert sich wie folgt an die Vorführungen in Hannover:

 

„Dann wurde das Photo-Drama bei uns im Konzerthaus, damals einer der größten Säle Hannovers, aufgeführt. Der Saal war immer überfüllt. Hunderte standen draußen, die Polizei sperrte ab. Ich hatte Ordnungsdienst. Br[uder] Alfred Decker leitete die Vorführung und Br[uder] Heinrich Lutterbach leitete ein kleines Orchester. Späte bin ich noch mit den Brüdern mitgefahren in die näheren Städte, wie Hildesheim, Celle usw. Und habe auch öffentlich gesungen. Dann kam das Jahr 1933. Unser Werk wurde verboten. […] Dann kam das endgültige Verbot. Wir wurden nun in sogenannte ‚Zellen‘ aufgeteilt, wo wir bis zu fünf Personen zusammenkamen. Vier Personen und ein Zellenleiter oder -leiterin. Ich wurde auch dazu ernannt. Am 7. Oktober 1934 versammelten wir uns in kleinen Gruppen und verfaßten das Protesttelegramm an Hitler, daß er aufhören soll, ‚Jehovas Zeugen zu verfolgen, sonst würde Gott ihn und seine nationale Partei vernichten‘. Es war eine sehr ernste aber erhebende Zusammenkunft.“

 

Elly Reulecke-Baar erlebte, wie der „Führer“, der sich wie ein Gott benahm, und seine Partei vernichtet wurden. Sie erlebte das Ende der Welt – einer barbarischen „braunen“ Welt.

 

Dem Kulturamt, Frau Lehmberg, und allen Beteiligten sei nochmals herzlich dafür gedankt, daß sie die Geschichte der Elly Reulecke-Baar, einer couragierten Frau, die ihrem Gewissen folgte, stellvertretend für viele andere Zeugen Jehovas in Hannover und in Deutschland einem interessierten Publikum zugänglich machen.

 

Johannes Wrobel

 


 [Text Faltblatt]

Mahn- und Gedenkstätte Ahlem
30453 Hannover, Heisterbergallee 8

 

Kontaktadresse: Landkreis Hannover, Kulturamt
Postfach 147, 30001 Hannover
Hildesheimer Str. 20, 30169 Hannover

  

17 „ – Heil Hitler –
kann ich nicht sagen“

Die Verfolgung der Zeugen Jehovas

 

Elly Reulecke-Baar
v
erfolgte Zeugin Jehovas

Zeugen Jehovas, bis 1931 Ernste Bibelforscher, eine 1874 von Ch. T. Russell gegründete religiöse, auf die in ihrem Sinne ausgelegte Bibel gestützte Gemeinschaft. Die Zeugen Jehovas verstehen sich als die bibeltreuen Untertanen einer Theokratie, als „Gottes Volk“. Die kirchliche Glaubenslehre wird in ihren Hauptstücken abgelehnt. Die Zeugen Jehovas lehnen jeden Wehrdienst ab; sie werden daher in totalitären Staaten vielfach verfolgt. In der NS-Zeit wurden ca. 2000 Menschen ermordet.

Die Internationalen Bibelforscher Vereinigung wurde am 24. Juni 1933 im Land Preußen verboten. Dies betraf auch die mit der Gruppe Hannover verbundenen Gläubigen. Von nun an waren nicht nur ihre gottesdienstlichen Zusammenkünfte, die in einer Schule in der Friedrichstraße abgehalten wurden, sondern auch jede Form des „Zeugnisgebens“ mit Hilfe der Bibel und bibelerklärender Schriften verboten.

Die Gefahren für die „Volksgemeinschaft“, die nach Meinung der Nationalsozialisten von den Schriften und Lehren der Bibelforscher ausgingen, führte zu einer unerbittlichen Verfolgung durch die deutsche Behörden, durch die Gestapo, die Kriminalpolizei, den SD und die SS im gesamten Reichsgebiet und später auch in den besetzten Gebieten.

Trotz des Verbots kamen die Zeugen Jehovas weiterhin zu christlichen Zusammenkünfte in kleinem Kreis zusammen. Das „Zeugnisgeben“ von Haus zu Haus wurde zunächst zurückgestellt und auf informelle Gespräche beschränkt.

Nachdem die Leitung der Zeugen Jehovas feststellen mußte, daß sie durch juristische und gerichtliche Maßnahmen die Behörden nicht zu einer Aufhebung der erlassenen Verbote bewegen konnte, war sie entschlossen, keine Rücksicht mehr auf die staatlichen Einschränkungen der Religionsfreiheit zu nehmen.

Im Oktober 1934 wurde daher das Verkündigungswerk in vollem Umfang wieder aufgenommen und gleichzeitig ein Protest an die Reichsregierung verabschiedet. Jehovas Zeugen folgten dabei der biblischen Maxime „Gott, dem Herrscher, mehr gehorchen als den Menschen“ (Apostelgeschichte, Kapitel 5, Vers 29).

Vor dem Verbot war die Zeitschrift „Der Wachtturm“ in der Druckerei der Zeugen Jehovas in Magdeburg hergestellt worden. Nach der Schließung der Druckerei erhielten die Zeugen eine Zeitlang ihre biblische Literatur durch die Post aus dem Ausland. Schließlich unterbanden die Behörden auch dies, und die Vervielfältigung der Literatur mußte im Untergrund vorgenommen werden. Von jeder Ausgabe der in einer illegalen Druckerei in Hamburg-Altona hergestellten Exemplare brachten Kuriere der Zeugen Jehovas jeweils 200 Exemplare heimlich nach Hannover. Die Gestapo bemühte sich fieberhaft, Kenntnisse über die Verteilung des „Wachtturms“ und der daran beteiligten Personen zu erlangen. Die Staatspolizeistelle Hannover klagte Anfang 1936, also fast drei Jahre nach dem Verbot, über die „schwierige“ Überwachung.

Viele Zeugen Jehovas, die sich weigerten, nationalsozialistischen Vereinigungen z.  B. der „Deutschen Arbeitsfront“ beizutreten oder die den „Hitler Gruß“ verweigerten, hatten bis zu diesem Zeitpunkt bereits ihren Arbeitsplatz verloren oder waren in Haft. Die Gestapo zog das Netz um die Zeugen Jehovas in Deutschland immer enger.

Im September 1936 organisierten die Zeugen Jehovas in der Schweiz einen mehrtägigen Kongress, und auch einigen Hundert Delegierten aus Deutschland gelang es, trotz Gestapo-Terror, heimlich nach Luzern zu reisen. Auf dem Kongress nahmen sie eine Resolution an, die die „grausame Behandlung der Zeugen Jehovas“ in Deutschland und Österreich anprangerte.

Einige Regierungsstellen in Deutschland erhielten sofort ein Exemplar der Resolution zugesandt. Auf dem Kongress wurde auch geplant, die Resolution als Flugblatt in einer Aktion im gesamten Reichsgebiet zu verbreiten. Die spektakuläre Aktion gelang.
Allein in Hannover konnten 12.000 Exemplare der Resolution verteilt werden.

Die überraschte Gestapo nahm sofort die meisten der ihr bekannten Zeugen Jehovas in Hannover fest. In einer Aufstellung des Sondergerichts Hannover über die gegen „Bibelforscher“ 1936 und 1937 verhängten Haftstrafen, finden sich die Namen von 29 Zeugen Jehovas, die in diesem Zeitraum abgeurteilt wurden.

Der Name der Opernsängerin und Musiklehrerin Else Baar erscheint gleich zu Beginn in der Anklageschrift des Oberstaatsanwalts beim Sondergericht Hannover. Was wurde ihr vorgeworfen?

 

[Foto]

Elly Reulecke-Baar

  In ihrer Wohnung fanden im Oktober und November 1936 christliche Zusammenkünfte statt, in denen auch die Verbreitung der Luzerner Resolution vorbereitet wurde. Später beteiligte sie sich selbst an der Verteilung. Ihre Strafe? Acht Monate Gefängnis. Als Else Baar aber am 17. August 1937 aus dem Gefängnis entlassen wurde, erfolgte sofort ihr Transport in ein Konzentrationslager.

Wie viele andere Zeuginnen Jehovas kam sie zunächst in das Konzentrationslager Moringen (bei Göttingen). Nach der Auflösung des Frauen-KZ Moringen, brachte man sie in das KZ Lichtenburg.

In den Verhören nach dem 12. Dezember 1936 konnte die Gestapo viele Einzelheiten der Planung und Durchführung der Flugblattaktion in Hannover herausfinden. Im Gestapo-Bericht von Elly Reulecke-Baar heißt es:

„Etwa im Oktober und Ende November fanden in ihrer Wohnung zwei Zusammenkünfte statt. An der ersten nahmen der . . . teil. Der . . . sprach über den Neuaufbau der Organisation und die Aufgaben der Anhänger. Die erwähnten Angeschuldigten und auch die Angeschuldigte Baar wurden als Zellenleiter oder Zellendiener eingesetzt. An Hand eines Stadtplans wurden ihnen bestimmte Bezirke zugeteilt…“

 

Gestapo-Runderlass gegen Bibelforscher

„Jede Person, die in irgendeiner Form die Bestrebungen der illegalen I.B.V. (Internationale Bibelforschervereinigung, Jehovas Zeugen) oder den Zusammenhalt ihrer Anhänger fördert, ist in Schutzhaft zu nehmen und unverzüglich dem Gericht zum Erlass eines richterlichen Haftbefehls vorzuführen.

Wird ein richterlicher Haftbefehl nicht erlassen, so ist die für die I.B.V. tätig gewordene Person gegebenenfalls auch über 7 Tage hinaus in Schutzhaft zu nehmen oder die Überstellung in eine Konzentrationslager anzuordnen …

Bezüglich der Dauer der Schutzhaft ist ein strenger Maßstab vor allem dann anzulegen, wenn es sich um einen Funktionär der I.B.V. oder eine rückfällige Person handelt …“

Runderlass der Gestapostelle München vom 19. Mai 1937
BKA, Sammlung Schumacher 271)

 Aus: Bauche, Brüdigam u.a., Arbeit und Vernichtung, Hamburg 1986

 Elly Reulecke-Baar schrieb in ihrem 1971 verfassten Bericht über die Verteilung der Resolution und ihre Verhaftung folgendes:

1936 kam es wieder zur Verteilung einer Resolution. Wir haben dann die Resolution an alle Zellen verteilt und an einem bestimmten Tag zum Schlage ausgeholt, indem wir sie in die Briefkästen steckten. Auch meine Mutter beteiligte sich daran und besuchte unsere kleinen Zusammenkünfte, auch dann als ich 1936 verhaftet wurde, denn der Gegenschlag ließ nicht lange auf sich warten. Wir sahen uns alle bald im Polizeipräsidium wieder. Als ich das erste Mal die Gefängniszelle betrat, war mir etwas unheimlich zumute, aber ein Gebet, und ich fühlte Jehovas Nähe.

 

Zeno Zeitung, Tageblatt Nr. 100, Apr. 1936

Geschichtsarchiv der Wachtturm-Gesellschaft, Selters/Taunus

 

Dann kamen stundenlange Verhöre, wo einer gegen den anderen ausgespielt wurde. Wie oft war man der Raffinesse der Gestapo nicht gewachsen. Von mir wussten sie bereits, dass ich eine Zelle leitete, dass die Brüder alle bei mir waren, nannten mir alle Namen, nur Bruder Frieses Namen aus Thüringen nicht. Den wollten sie unbedingt von mir erfahren. Sie versprachen mir, ich käme sofort frei, wenn ich ihn sagte. Ich erklärte, daß ich ihn nicht kenne und nicht wüsste, wie er heißt. Als das nichts nützte, sperrte man mich in eine Dunkelkammer. Aber als das auch nichts half, kam ich erst mal zurück in meine Zelle. So ging es tagelang, bis wir in das Untersuchungsgefängnis kamen. Dort fand ich noch viel mehr Brüder aus den umliegenden Orten, wie Nienburg.

… Nach zwei Monaten Untersuchungshaft fand mein Prozess statt. Ich stand mit 32 Brüdern vor Gericht. Uns wurde ein Rechtsanwalt zugeteilt. Mein Rechtsanwalt wollte mir einreden, ich hätte mich kommunistisch betätigt, weil wir unsere kleinen Zusammenkünfte „Zellen“ genannt hatten. Ich erklärte, wenn er mich anklagen will, brauche er mich nicht zu verteidigen, ich werde mich allein verteidigen. Das habe ich dann auch getan. Der Richter meinte zwar, ich würde dann wohl mehr im Gefängnis sein als in Freiheit. Ich antwortete ihm:Das wird Gott bestimmen.

Ich wurde zu acht Monaten Gefängnis verurteilt, war aber immer in Einzelhaft, weil ich jedem, mit dem ich zusammenkam, Zeugnis gab. Die Ernährung war dort so schlecht, dass ich nach acht Monaten nur noch 75 Pfund wog und an Hungertyphus erkrankte. Trotzdem kam ich dann 2 Wochen ins Polizeipräsidium. Hier fragte mich die Gestapo, ob ich noch ein Zeuge Jehovas wäre. Ich sagte ihm:Jetzt mehr denn je, ich habe ja nichts mehr zu verlieren.Ich war inzwischen auch aus der Musikkammer ausgeschlossen worden, so dass ich weder als Sängerin noch als Musikpädagogin arbeiten durfte.

Der Ausschluss aus der Musikkammer sollte Elly Reulecke-Baar die wirtschaftliche Existenzgrundlage nehmen. In einem Schreiben der Reichsmusikkammer wurde ihr mitgeteilt, „dass sie die für die Ausübung einer kammerpflichtigen Tätigkeit erforderliche Zuverlässigkeit und Eignung nicht besitzt“.

Frau Reulecke-Baar berichtete weiter:

Mit dem nächsten Transport kam ich in das Lager Moringen. Dort hatten wir esganz gut. Wir durften sogar einmal ein Paket erhalten, aber ich hatte ja niemanden draußen, denn meine Mutter war inzwischen auch verhaftet, sie bekam ein halbes Jahr Gefängnis. Doch eine Schwester, die mit mir in meinem Prozeß war, aber nach einem Vierteljahr frei kam, erinnerte sich meiner und schickte mir ein Paket. Hier in Moringen erhielten wir nochWachttürmehereingeschmuggelt. Wir organisierten uns wieder, und ich erhielt wieder einen kleinen Kreis zugeteilt. Wir studierten mittags, in der Zeit wo die Wachtmeisterinnen Pause machten und nicht erschienen. Somit setzte ich meine Tätigkeit, derethalben ich verhaftet worden war, hier weiter fort.

Wir blieben nicht lange in Moringen, wurden in dunkler Nacht abtransportiert nach Lichtenburg in der Nähe von Torgau. Dort kamen wir in ein Lager, das sah aus wie eine feste Burg. Starke Eisengitter vor den Fenstern, von einer hohen Mauer umgeben, oben mit elektrischem Draht versehen und von SS-Männern bewacht. Hier hatten wir Schreibverbot, so dass ich während der ganzen Zeit nichts von meiner Mutter hörte und sie nicht von mir.

 

Text, der auf Briefen von Zeuginnen Jehovas aus dem KZ Moringen gestempelt oder gedruckt war.

Geschichtsarchiv der Wachtturm-Gesellschaft, Selters/Taunus

 Wir mußten von morgens bis abends arbeiten. Da ich sehr schwach und viel krank war, wurde ich erst in die Nähstube kommandiert. Dann stellte sich bei mir ein Stirnhöhlenleiden ein und jede Nacht Herzanfälle. Die Ärztin schickte mich nach Torgau zu einem Spezialarzt. Mit der Wachtmeisterin meiner Abteilung und zwei SS-Männern wurde ich zweimal nach Torgau gefahren. Der Arzt sagte, er könne nichts machen, ich müßte operiert werden. Das wollte das Lager nicht.

Kurze Zeit darauf musste ich zu unserem Lagerkommandanten, einem Standartenführer, kommen. Er legte mir die übliche Unterschrift vor. Ich las nur die ersten Sätze, dann sagte ich:Das kann ich nicht unterschreiben.Er fragte, warum nicht? Ich erklärte:Weil ich dann die Bibel als Irrlehre erklären müßte, wir lehren nur, was die Bibel sagt.Wütend brüllte er mich eine Stunde lang an. Aber es half nichts, ich wurde in meinen Block zurückgeführt. Nach Monaten wurde ich wieder gerufen, weil ich, jetzt im Garten arbeitend, alle Tage zusammenbrach. Diesmal fragte mich der Kommandant, ob ich jetzt unterschreiben wollte. Ich antwortete:Nein, ich kann nicht.Da legte er mir einen kleinen Zettel vor, worauf stand, dass ich dem christlichen Glauben gemäß leben wolle und die Landesgesetze respektiere.

 

[Foto Verpflichtungserklärung]

Geschichtsarchiv der Wachtturm-Gesellschaft, Selters/Taunus

  

Ich sagte:Die Landesgesetze haben wir immer respektiert, aberHeil Hitler!kann ich nicht sagen.Darauf sagte der Standartenführer wörtlich:Das brauchen Sie ja nicht, es ist ja kein Gesetz.

Ich war sprachlos, denn täglich wurden Schwestern eingeliefert, nur weil sie nichtHeil Hitler!gesagt hatten. Diesen Zettel unterschrieb ich. Nach einigen Wochen wurde ich wieder gerufen. Der Kommandant teilte mir mit, daß die Gestapo in Hannover mich aufgrund dieser Unterschrift nicht freigeben will. Ich antwortete:Dann muß ich eben hier bleiben.Aber einige Wochen später wurde ich doch probeweise zur Operation entlassen. Das war Ende 1938, somit waren zwei Jahre Haft zu Ende.

Ich erinnere mich noch gut an einen Tag in Lichtenburg, und zwar an den Tag, da Hitler Österreich besetzte. Wir wurden beordert, alle unseren Schemel zu nehmen und im Lagerhof blockweise Platz zu nehmen, um die Ansprache desFührerszu hören. Einige von uns gingen herunter, auch ich, weil ich mir sagte, das ist Hausordnung. Die anderen wurden mit Peitschen, zum Teil an den Haaren, heruntergeschleift. Als aber das Deutschland- und Horst-Wessel-Lied erklang, standen die politischen Häftlinge auf, wir aber blieben sitzen. Eine Beamtin, die neben mir stand, sagte: ’Stehen Sie auf!’ Ich aber blieb sitzen. Da ging sie zu einer anderen Beamtin und sagte: ’Die Bibelforscher geben doch tatsächlich nur ihrem Gott die Ehre.’

 

[Foto Zeitungsausschnit]

Hannoverscher Kurier, 9. 8. 1938

Geschichtsarchiv der Wachtturm-Gesellschaft, Selters/Taunus

 

In Hannover angekommen, mußte ich sofort zur Gestapo. Sie waren erstaunt, daß ich nicht gelernt hatte, ’Heil Hitler!’ zu grüßen. Ich sagte ihnen, was mir der Standartenführer gesagt hatte: ’Das brauche ich ja nicht, weil es nicht Gesetz ist.’ Wie von der Tarantel gestochen, fuhren die Beamten hoch und brüllten los. Mindestens eine Stunde quälte man mich, ich sollte ’Heil Hitler!’ sagen, bis ich zusammenbrach. Da ließ man mich gehen, aber ich mußte mich täglich in meinem Polizeirevier melden, dies sollte mich lehren ’Heil Hitler!’ zu sagen. Ich sagte sogleich wenn ich hereinkam: ’Würden Sie mich bitte eintragen.’ ’Geht in Ordnung!’ war die Antwort, und ich ging wieder ohne Gruß hinaus. So ging es fünf Jahre lang.

Doch die Polizei, darunter höhere Beamte, liefen uns das Haus ein und wollten wissen, wovon ich lebe. Zuletzt wurde es meiner Mutter zu bunt, sie hat einem Polizeibeamten die Tür gewiesen mit den Worten: ’Meine Tochter hat im Lager trocken Brot gegessen, das kann sie bei mir auch.’ Es ist dann auch niemand wiedergekommen.

Für meine Mutter und mich war es schwer, mit dem wenigen Geld durchzukommen. Meine Mutter hatte nur eine kleine Rente, und wir vermieteten zwei Räume unserer Wohnung. Da wohnte bei uns auch ein Herr, Hermann Reulecke, er wollte mich heiraten.

Wir heirateten am 29. Dezember 1939. Am nächsten Tag hatten wir die Vorladung zur Gestapo. Dort beauftragte man meinen Mann, er solle mich politisch schulen. Auch mir sagte der Kommissar, ich solle mich doch der Regierung nähern. Darauf sagte ich nur: ’Dieser Regierung? Dann hätte ich nicht die Lager kennen lernen dürfen, niemals!’ Er sagte nur: ’Sie auch?’ und schlug die Augen nieder.

Im März 1945 brannte noch unsere Wohnung zum Teil aus, dann war der Krieg vorbei…“

 

Das Leben der Zeugen Jehovas in der NS-Zeit mit Verfolgung, Haft und der Zeit im Konzentrationslager ist hier beispielhaft durch die Aufzeichnungen der Opernsängerin und Musiklehrerin Else Reulecke-Baar aus Hannover dargestellt. Frau Reulecke-Baar wohnte in der Celler Straße 103, sie ist 1989 in Hannover gestorben.

Es konnte das Leben kosten, während der Gewaltherrschaft der Nationalsozialisten ein Zeuge Jehovas zu sein. Dennoch schlossen sich im Zeitraum 1933-1945 mindestens 25 neue Mitglieder der Gruppe in Hannover an und wurden als Zeugen Jehovas getauft.

Eine im September 1945 erstellte Bilanz der Verfolgung zeigt, dass mindestens 95 Personen der Gemeinde im Zeitraum von 1933 bis 1945 ein- oder mehrfach verhaftet worden waren.

Insgesamt wurden in Hitler-Deutschland weit über 10.000 Zeugen Jehovas unmittelbar Opfer des Nationalsozialismus, d.h. Verlust des Arbeitsplatzes, der Rente, Entzug der Kinder oder Verurteilung zu Geld- oder Haftstrafen.

Rund 6.000, davon über 445 aus Österreich, waren in Gefängnissen und Konzentrationslagern inhaftiert, wobei etwa 2.000, davon 150 Österreicher, ihr Leben verloren.

Hingerichtet wurden über 250 Menschen, mindestens 48 von ihnen kamen aus Österreich.

 

Herausgegeben vom Landkreis Hannover

Der Landrat

im Jahre 2000

Text:
Johannes Wrobel und Daniel Meier, Geschichtsarchiv der Wachtturm-Gesellschaft, Selters/Taunus

Redaktion:
Gabriele Lehmberg, Kulturamt, Landkreis Hannover

Fotos:
Geschichtsarchiv der Wachtturm-Gesellschaft, Selters/Taunus

Hinweis:
Die im Text wiedergegebenen Zitate sind der neuen Schreibweise angepasst worden

 



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